Autoren: Dr. Sonja Hogewoning, Dipl.-Labchem. Christine Mehling, Dipl.-Inf. Diethard Wettrau, Prof. Dr. Albrecht Wolter

Die Bestimmung der Branntkalkreaktivität mittels Nasslöschkurve wurde um eine Methode zur Ermittlung verzögerter Endreaktionsanteile und eine präzisere Bestimmung des Reaktionsendpunktes erweitert. Basierend auf der Hypothese, dass bei idealer Löschreaktion die Ableitung der Nasslöschkurve einer logarithmierten Gaussverteilungskurve folgt und Asymmetrien im Endstadium des Kurvenverlaufs auf Anteile mit verzögerter Reaktivität zurückzuführen sind, wurden mathematische Regeln zur Ermittlung der Ableitung und Anpassung von Gaussverteilungskurven entwickelt.

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Einleitung

Die heutigen industriellen Anwendungen von Branntkalk verteilen sich auf eine Vielzahl von Prozessen und Einsatzgebieten, die eine Vielfalt von Produktanforderungen an die Qualität des Kalkes z. B. bezüglich der Reinheit oder der Homogenität mit sich bringen. Von besonderer Bedeutung ist dabei vor allem die Reaktivität des erzeugten Branntkalkes, um die Folgeprozesse sicher und qualitätsgerecht steuern zu können. Dabei benötigen unterschiedliche Anwendungen zum Teil sehr verschiedene Reaktivitäten, die aber ihrerseits kaum Schwankungen aufweisen dürfen. Damit stellt die Bestimmung der Branntkalkreaktivität in der Produktionssteuerung und -überwachung einen wichtigen Aspekt dar, bei dem eine Erweiterung der Informationsausbeute aus der gemessenen Nasslöschkurve einen wichtigen Beitrag zur Produktionssteuerung liefern kann.

Die vorliegende Arbeit dient daher dazu, die Reaktivitätsbestimmung zu modifizieren und präzisieren, sowie die ermittelten Daten mit Produktparametern zu verknüpfen. Das Verfahren berücksichtigt den gesamten Kurvenverlauf in der Auswertung und liefert damit wichtige Informationen zur Gleichmäßigkeit des Reaktionsverlaufes und zum Verlauf des Reaktionsendstadiums, und stellt damit zusätzliche Parameter zur Steuerung und Optimierung des Produktionsprozesses dar. Der Anwender kann beurteilen, ob die Löschreaktion gleichförmig verläuft oder ob eine Verzögerung des Reaktionsendes durch langsamer reagierende Anteile auftritt. Dieser Bereich des Löschverlaufs wird im Folgenden als Endreaktion (‚final reaction’ bzw. FR-Wert) bezeichnet.

Grundlagen

Die Branntkalkreaktivität wird über die Geschwindigkeit des Umsatzes von Calciumoxid mit dem Reaktionspartner Wasser im sog. „Löschprozess“ beschrieben. Die Reaktion verläuft unter Energiefreisetzung in Form von Wärme nach der chemischen Gleichung:

CaO + H2O → Ca(OH)2Δ HR = -65 kJ/mol CaO (1)

Für die technische Anwendung des Kalklöschprozesses ist es ein signifikanter Unterschied, ob die Reaktion im Bruchteil einer Minute oder über einen längeren Zeitraum mehr oder weniger kontinuierlich abläuft. Die Kalke werden entsprechend ihrer Reaktivität in Weich-, Mittel- und Hartbrannt eingeteilt, wobei dieser Nomenklatur keine präzise Definition zugrunde liegt. Generell bezeichnet man schnelle Kalk bis etwa 2 Minuten Reaktionsdauer als Weichbrannt, während Reaktionszeiten von zwei bis sechs Minuten Mittelbrannt- und über sechs Minuten Hartbranntkalke charakterisieren.

Die Bestimmung der Reaktivität erfolgt heutzutage in der Regel über die Aufzeichnung der Nasslöschkurve nach DIN EN 459-2 [1], welche aus der DIN 1060 [2] übernommen wurde. Hierbei wird in einer doppelwandigen Vakuum-Mantelflasche, dem sog. Dewar-Gefäß, (600 ± 1) g destilliertes Wasser mit (20 ± 0,5) °C vorgelegt und (150 ± 0,5) g Branntkalk zugegeben. Die Temperaturzunahme über die Zeit wird erfasst und der 80 %ige Umsatz des Kalkes – auf die Zeit tu [min] und die Temperatur Tu [°C] bezogen angegeben (Bild 1).bild-1 Die gemessene Maximaltemperatur T’max [°C] wird unter Anwendung eines vorgegeben Wasserwertes korrigiert. Es wird somit weder die spezifische Wärmekapazität des Wasserkörpers („Wasserwert“) betrachtet, noch der reale Wärmestrom, der von verschiedenen Faktoren wie z. B. Dauer der Messung, Energieeintrag durch den Rührer oder Temperaturgradient beeinflusst wird.

Diese Auswertung beruht somit ausschließlich auf den Daten zweier Messzeitpunkte (100 %- und 80 %-Umsatz), obschon der Verlauf der gesamten Reaktion aufgezeichnet wird. In den Anwendungs-Laboratorien wird diese Auswertung häufig sogar auf einen einzelnen Wert reduziert. In diesen Fällen wird nur die benötigte Zeit bis zum Erreichen einer definierten Temperatur betrachtet. Damit gehen wertvolle Informationen für die Brennprozesssteuerung und die Qualitätssicherung verloren.

Der Hydratationsprozess während der Nasslöschung wird als eine Auflösung des CaO mit anschließender Ca(OH)2-Kristallisation aus der flüssigen Phase beschrieben [3, 4]. Der geschwindigkeitsbestimmende Faktor ist dabei in erster Linie die spezifische Oberfläche des CaO, welche durch die Parameter Rohdichte, Porosität, Mahlfeinheit und Porengrößenverteilung und das Gefüge des CaO - hier vor allem die Größe und der Fehlordnungsgrad der Kristallite - bestimmt wird. Zusammen definieren sie die Aktivität der dem Wasser dargebotenen Angriffsfläche. Diese kann durch Schutzschichten auf dem CaO in Form von Verunreinigungen, Schmelzhäutchen oder Ca(OH)2- und CaCO3-Schichten beeinträchtigt sein, so dass die Diffusionsgeschwindigkeit des Löschwassers durch diese Schichten einen weiteren Faktor darstellt [5]. Die Verlangsamung der Hydratation aufgrund von CaCO3-Schichten durch Carbonatisierung (CaO + CO2 ® CaCO3) beruht darauf, dass die CaCO3-Schichten den Kontakt zwischen CaO und Wasser behindern. Damit ist in solchen Fällen die Diffusionsdauer der H2O-Moleküle durch die CaCO3-Schicht und in Folge dessen die Schichtdicke der geschwindigkeitsbestimmende Faktor. Ob die Inaktivierung durch Schichtenbelegung wirksam ist, kann über den Quotienten von Produktvolumen (CaCO3) zu Eduktvolumen (CaO), dem sog. Pilling-Bedworth-Verhältnis beschrieben werden [6]. Dieser Quotienten quantifiziert die Diffusionsbehinderung, das Abplatzen der Schichten und damit den Wasserangriff bzw. bei dünneren Schichten ihre Porosität.

Ein Hinweis, dass mittels einer adiabat gerechneten Nasslöschkurve theoretisch auch der Anteil des freien CaO (sog. ‚available lime’) zu bestimmen sein müsste, findet sich bei Butenuth et al. [7]. Sie betrachten in ihren Untersuchungen sowohl thermodynamische Größen als auch formalkinetische Größen der Nasslöschkurve [8]. Allerdings setzen sie voraus, dass die Nasslöschkurven-Apparatur als adiabates System fungiert, obwohl es sich real nur um eine teiladiabate Messung handelt. Die Betrachtung der Messwerte unter dem Aspekt der Arrhenius-Gleichung, welche die Abhängigkeit der Reaktionsgeschwindigkeit von der Temperatur beschreibt, zeigt, dass der Anfangs- und der Endverlauf der aufgenommenen Kurven einem Geschwindigkeitsgesetz 1. Ordnung unterliegen. Der mittlere Bereich der Nasslöschkurve durchläuft ein Geschwindigkeitsminimum und wird als Auflösung des gebildeten festen Calciumhydroxides in ein „aktiviertes Produkt“ (Ca(OH2 s ® Ca(OH)+2 s)) gedeutet, womit er keinem Geschwindigkeitsgesetz 1. Ordnung unterliegt, sondern während der vermuteten Umwandlung praktisch die gesamte Reaktionsenthalpie aufnimmt [8].

Untersuchungen zur Visualisierung des Löschprozesses mit Bildung von Hydratationsmodellen für Hart- und Mittelbrand sowie für Weichbrand beschreiben die Hydratation als mehrphasigen Prozess, der durch Bildung von Calciumhydroxid-Belegungen auf den Branntkalkkristalliten zeitweilig verzögert wird [9, 10]. Demnach „bilden sich auf der anhydrischen Oberfläche zunächst Schichten aus Hydraten, die über einige Zeit eine Diffusionssperre bilden, dann aber durch die auftretenden Wachstumsspannungen einreißen. Durch die Risse kann flüssiges Wasser unter Umgehung der Diffusionshemmungen direkt zum anhydrischen Kalk vorstoßen.“ [9]

Der Einfluss der Kristallitgrößen auf die Branntkalkreaktivität wird von Pfannenschmidt beschrieben. Die Ergebnisse der Nasslöschkurve korrelieren mit denjenigen aus der Teilchengrößenbestimmung. Sie beschreibt die unterschiedlichen Reaktivitäten der Branntkalke mit dem Vorhandensein zweier Populationen von Teilchengrößen, die je nach Sintergrad überwiegen [11].

Methodik

Erweiterte Auswertung

Die Auswertung der Nasslöschkurve wird unter Beibehaltung vorhandener und bewährter Apparatur und Messverfahren unter Berücksichtigung der physikalischen Prozessgrundlagen der Hydratationsreaktion mittels mathematischer Verfahren zu einem allgemeingültigen Algorithmus entwickelt, bei dem die Nasslöschkurve durch Logarithmierung, Interpolation und Differentialrechung aufbereitet wird und die Auswertung durch Anpassung geeigneter Verteilungskurven erfolgt. Die erweiterte Auswertung der NLK wurde verifiziert und die gemessenen Materialkenndaten mit den neuen Reaktivitätsparametern des entwickelten Auswertesystems verknüpft und deren Korrelationsgenauigkeit bewertet.

Probengrundlage

An 42 Branntkalkproben aus der technischen Produktion und 7 im Laborofen erbrannten Proben wurden die chemischen und physikalischen Materialparameter bestimmt und ihre Reaktivität mit der erweiterten Auswertung der Nasslöschkurve analysiert.

Brennversuche

Die Brennversuche zur Untersuchung des Einflusses hartgebrannter Anteile wurden in einem modifizierten Labor-Drehrohrofen mit zwei getrennt regulierbaren Heizzonen durchgeführt. Der Ofen wurde auf einen Betrieb ohne Neigung mit stationärem Keramikinnenrohr umgerüstet, bei dem die Trennung der Heizzonen mittels Stopfen aus Feuerleichtbeton erfolgt. Die Proben werden manuell in Keramikschalen durch die Temperaturzonen im stillstehenden Ofenrohr geschoben. Je Versuch wurden fünf Probenschalen mit jeweils 80 g Probe mit einer Körnung von 2 ‑ 4 mm gebrannt.

Der Weichbrannt wurde bei 1050 °C in einer Stunde in der Calcinationszone des Ofens entsäuert und dann entnommen. Für die Herstellung des Hartbrannts erfolgte die selbe Calcination und anschließen der Vorschub in die zweite Heizzone mit 1300 °C und vier Stunden Sinterzeit.

Versuchsergebnisse und Diskussion

Entwicklung der erweiterten Auswertung zur Bestimmung des FR-Wertes

Bildung des Differenzenquotienten

Die Umformung einer vorliegenden T/t-Kurve (Nasslöschkurve) erfolgt in mehreren Schritten.

- Logarithmierung der Zeit zur Spreizung der Kurve

- Interpolation von äquidistanten Stützstellen

- Berechnung der Differenzenquotienten der interpolierten Stützstellen

- Glättung der Kurve durch Bildung des gleitenden Durchschnitts

- Bestimmung der lokalen Maxima

- Einpassung von Gauss-Verteilungskurven für die lokalen Maxima

Die vorliegenden Rohdaten [t, T] beschreiben eine Kurve K1 mit T = f(t) (Bild 2).

bild-2

K1 : [t,T] (2)

Die untersuchte Hauptreaktion liegt in der Regel im Bereich der ersten 10 Minuten. Dieser Zeitraum wird durch die Logarithmierung gespreizt.

Es entsteht:

K2 : [ln(t),T](3)

Die gezeigte Spreizung ist zunächst nur die Darstellung der Funktion auf einer logarithmischen Abszisse. Die Dimension der Abszisse ist immer noch Minuten. Da im nachfolgenden Schritt mit diesen Werten weitergearbeitet werden soll, werden die zeitlich linearen Abszissenwerte logarithmiert. Es entsteht die Kurve K2 durch Anwendung des natürlichen Logarithmus auf t. In Bild 3 ist erkennbar, dass die Zeitwerte auf der Abszisse durch die Logarithmierung nicht mehr äquidistant liegen. Für die nachfolgenden numerischen Auswertungen sind gleiche Abstände zwischen den Abszissenwerten notwendig.

bild-3

Bild 4 zeigt eine Funktion, deren Abszissenwerte zunächst logarithmiert wurden. Im Anschluss daran wurden 100 äquidistante Stützpunkte für den gesamten Kurvenverlauf interpoliert. Es entsteht die Kurve K3. Ausgehend von den linear approximierten Stützpunkten der Kurve K3 wird für benachbarte Stützpunkte der Anstieg zwischen den Punkten berechnet:

bild-4

 

grafik4(4)

t: t1, t2 … tn äquidistant aus K3

Es entsteht K4:

grafik5(5)

Bild 5 zeigt als Punkte die berechneten Anstiege zwischen benachbarten Stützpunkten. Die eingezeichnete Linie beschreibt den Funktionsverlauf nach einer Glättung (gleitender Mittelwert) über 5 Stützpunkte. Für die Kurve K4 werden numerisch die lokalen Extrempunkte (tmax) ermittelt. In den Punkten, in denen lokale Maxima vorliegen, werden später numerisch Gauss-Verteilungskurven eingepasst.

bild-5

Für die Ermittlung der lokalen Extrempunkte wird eine Spannweite von s = 11 Stützpunkten verwendet. Ein lokales Maximum liegt vor, wenn innerhalb der Spannweite s links- und rechtsseitig des Punktes kein größerer Funktionswert gefunden wird. Bei s = 3 werden die Punkte ti-1, ti, ti+1 betrachtet, wenn in ti ein Extrempunkt vermutet wird. Für die Kurve K4 wurden numerisch die lokalen Extrempunkte ermittelt.

In den Punkten tmax, in denen lokale Maxima vorliegen, werden numerisch Gauss-Verteilungskurven eingepasst, so dass deren Erwartungswerte mit dem Abszissenwerte der Maxima zusammenfallen. Die verfügbaren Variablen einer Gauss-Verteilungskurve sind in Bild 6 dargestellt.

bild-6

Die Einpassung einer Verteilungskurve erfolgt über die Bestimmung des Maximums und der Halbwertsbreite des Rohdatenpeaks. Ausgehend von K4 werden jene Punkte tl und tr ermittelt für die gilt:

grafik6(6)

grafik7(7)

tl < tmax < tr (8)

Der Suchbereich für tl und tr wird durch mögliche weitere Extrempunkte, die links- bzw. rechtsseitig von tmax liegen, begrenzt. Für die Einpassung im konkreten Fall wird jener Punkt tFWHM verwendet, der näher an tmax liegt, da die untersuchte Kurve K4 nicht symmetrisch sein muss.

grafik9(9)

Für die Halbwertsbreite gilt dann:

grafik10(10)

Mit bekannter Halbwertsbreite sowie gegebenem f(tmax) kann mit Hilfe der Gleichungen 14 und 15 die Gausskurve vollständig beschrieben werden.

grafik11(11)

grafik12(12)

Für die Gausskurve gilt allgemein::

grafik13(13)

Für den vorliegenden Fall gilt:

grafik14(14)

Daraus entsteht

grafik15(15)

Für die Betrachtung fällt tmax mit dem Mittelwert zusammen:

grafik16(16)

grafik17(17)

grafik18(18)

grafik19 (19)

Für die Fläche unter der Kurve ergibt sich somit:

grafik20(20)

Mit den ermittelten Parametern ist die Verteilungskurve beschrieben:

grafik21(21)

Mit Anwendung auf K4 ergibt sich:

grafik22(22)

Das Ergebnis der Einpassung zeigt sich in Bild 7 für zwei lokale Maxima.

bild-7

Anhand der vorgenommenen Einpassung werden die Flächen unter K4 und unterhalb der Verteilungskurve ermittelt. Betrachtet werden nur die positiven Anteile rechtsseitig des Hauptmaximums. Für K4 wird die Integration numerisch durchgeführt. Die Fläche A unterhalb der Verteilungskurve liegt bereits analytisch vor.

Ermittlung des Endreaktionsanteiles (FR-Wert)

Die differenzierten Kurvenverläufe weisen für alle Proben ein initiales Maximum auf, welches bei einigen Proben singulär ausgebildet ist. Aber auch Proben mit einem späteren Umsatzratenmaximum zeigen das initiale Maximum, dessen Betrag mit zunehmendem zweiten, dominierenden Maximum abnimmt. Die Hauptreaktion erfolgt über die Zeitspanne bis zum Erreichen der höchsten Umsatzrate, welche bei bi- bzw. multimodalen Kurvenverläufen grundsätzlich dem Maximum mit dem höchsten Ordinatenwert entspricht.

Die Ableitung gibt die Änderung der Reaktionsgeschwindigkeit y in DK/Dlnt zum jeweiligen Zeitpunkt x wieder. Verläuft die Abnahme der Reaktionsgeschwindigkeit nach dem Erreichen des Maximums langsamer als die eingepasste logarithmische Gausssche Verteilungskurve vorgibt, zeigt dies das Vorhandensein verlangsamt reagierender Anteile in der Messprobe an. Das Integral unter der abgeleiteten Kurve, welches ab dem Hauptmaximum bis zum Erreichen von y = 0 nicht durch die eingepasste Gausskurve beschrieben werden kann, wird daher als Endreaktionsanteil bezeichnet, als sog. FR-Wert(engl. final reaction).

Zur Bestimmung des Endreaktionsanteils FR wird die nicht durch die Gaussverteilung abgedeckte Fläche des Hauptmaximums (AFR) ermittelt (Bild 8). Dazu wird über die Bildung des Integrals die Fläche A>HM unter der Ableitung ab dem Maximum der Hauptreaktion (y = max) bis zum Ende der Reaktion (y = 0) numerisch bestimmt () und von diesem das halbe Integral der zugehörigen logarithmischen Gausskurve () subtrahiert:

grafik23(23)

Der FR-Wertergibt sich aus dem prozentualen Anteil des nicht durch die Gausskurve abgedeckten Integrals nach dem Hauptmaximum vom Gesamtintegral unter der Ableitung ():

grafik24(24)

Endpunkt der Reaktion

Der Zeitpunkt an dem

y = 0(25)

erreicht, entspricht in hinreichender Näherung dem Endpunkt der Reaktion. Die Änderung der Reaktionsgeschwindigkeit und damit die Reaktion kommen damit zum Stillstand. Zar entspricht dieser Wert durch auftretende Wärmeverluste des Dewargefäßes zwar nicht streng dem Reaktionsende, ist jedoch präziser, als bisherige Methoden, welche in unterschiedlicher Weise nur den absoluten Abfall der Temperatur erfassten.

Verifizierung

Um den Einfluss der Messapparatur bei der Ermittlung des FR-Wertes zu untersuchen, wurde in beiden Forschungsstellen an ausgewählten Proben mit der jeweils vorhandenen Messapparatur die Reaktivität gemessen und der FR-Wert ermittelt. Der Vergleich der ermittelten Parameter in Bild 9 zeigte dabei, dass sich für die absoluten und prozentualen FR-Werte Unterschiede in Abhängigkeit von der verwendeten Messapparatur ergeben können. Eine Gegenüberstellung der logarithmierten Ableitungen der Messdaten (Bild 10) weißt dagegen keine besonders signifikanten Unterschiede der Kurvenverläufe auf, wie sich auch durch die gut übereinstimmenden Werte für das vollständige Integral der abgeleiteten Kurve ('Integral FullRohdaten') zeigt. Schon kleine Unterschiede in der Halbwertsbreite der ermittelten Kurvenverläufe haben demnach einen starken Einfluss auf die weitere Berechnung des FR-Wertes. Für direkte Vergleiche des FR-Wertes von Proben, die mit unterschiedlichen Apparaturen gemessen wurden ist es daher zwingend notwendig, vorher vergleichende Messungen durchzuführen.

Interpretation von Messergebnissen

Endreaktionsanteil (FR-Wert)

Die Ableitung der logarithmierten Nasslöschkurve erlaubt die Beschreibung der Branntkalkreaktivität über die Lage des Kurvenmaximums. Hierbei handelt es sich um den Zeitpunkt der höchsten Umsatzrate. Die Gesamtfläche unter der Kurve entspricht der freigesetzten Wärmemenge der Reaktion. Die erweiterte Auswertung lässt damit Rückschlüsse auf die Reaktionskinetik des jeweiligen Prozesses zu.

Die Kurvenverläufe der logarithmierten Ableitungen weisen für alle Proben ein initiales Maximum auf, an das sich bei stärkerem Brenngrad, d.h. bei langsameren Hydratationsverläufen ein zweites Maximum anschließen kann, welches in der Regel als höheres, sog. Hauptmaximum ausgeprägt ist. Das Erscheinen dieses sekundäreren Maximums zeigt grundsätzlich eine Verlangsamung der Umsatzrate an.

Das Initialmaximum ist in mehr oder minder starker Ausprägung bei nahezu allen Proben zu beobachten und wurde auch bei Versuchen mit kalkgesättigtem Löschwasser anstelle von destilliertem Wasser beobachtet [12]. Buthenuth et al. [7] welche die Nasslöschkurve ebenfalls durch Differenzierung auswerten, deuten es als eine erste Oberflächenreaktion des Calciumoxids. Das Auftreten des Initialmaximums lässt sich auch in Übereinstimmung mit dem Hydratationsmodell von Wolter et al. [10] bringen, welches zu Reaktionsbeginn eine sehr schnelle Calciumhydroxidbildung beschreibt, bis alle Branntkalkpartikel mit der entstandenen Hydroxidschicht bedeckt sind, so dass der weitere Fortschritt der Löschreaktion durch diese diffusionshemmende Schicht verlangsamt wird. Der Reaktionsfortschritt der Löschreaktion wird durch die Behinderung des Wasserzutritts zu tiefer liegenden Kristallitbereichen gehemmt. In diesem Hydratationsmodell liegt die logarithmische Gausseinpassung an die differenzierte Nasslöschkurve begründet, da sich bei fortgeschrittener Reaktion immer dickere bzw. dichtere Diffusionsschichten ergeben.

Für ein besseres Verständnis der Löschreaktion wurden Modellkalken als Referenzkalke mit bekannter chemischer Zusammensetzung und definierten Eigenschaften unterschiedlichen Brenngrades im Laborofen erbrannt, die die Betrachtung des Einflusses von hartgebrannten Anteilen in höherreaktiven Kalken auf das Löschverhalten ermöglichen.

Ausgehend von einer reinen Weichbrannt- (1050°C / 1h Calcination) und einer reinen Hartbranntprobe (1050°C /1h Calcination, anschließend 1300°C / 1h Sinterung) wurden durch Variation des Mischungsverhältnisses sieben unterschiedliche Mischungen hergestellt. Aus Bild 11 geht hervor, dass sich der Umsatz der bei 1300 °C gebrannten Probe in zwei voneinander getrennte Maxima aufspaltet.

bild-11

Die anhand der Kalibrierreihe berechneten FR-Werte der Mischungen konnten in den Messungen nicht bestätigt werden. Vielmehr kam es durch die Zugabe von Weichbranntanteilen zu einer Verlagerung der Peakmaxima zu schnelleren Umsatzgeschwindigkeiten hin. Während sich das erste Peakmaximum durch die Zugabe von Weichbrannt stärker ausbildet, schwächt sich erwartungsgemäß das zweite Maximum ab.

Es hat sich gezeigt, dass durch die Verschiebung der Peaks und der Peakverschmälerung keine werks- und lagerstättenunabhängige Berechnung des Hartbranntanteils auf der Basis von Referenzkalken erfolgen kann. Die individuellen Wechselwirkungen sind zu stark ausgeprägt.

Zusammenfassung und Fazit

Im Rahmen der vorliegenden Arbeit zur „Neuentwicklung einer Methode zur Beschreibung des Löschverhaltens von Branntkalken unter Einbezug vorhandener Messtechnik“ ist es gelungen, die Reaktivitätsbestimmung so zu präzisieren, dass der gesamte Kurvenverlauf der Nasslöschkurve in der Auswertung berücksichtigt wird und zusätzliche Parameter generiert werden können. Die neue Auswertemethode erschließt so z. B. wichtige Informationen zur Gleichmäßigkeit der Reaktionskinetik und - erstmalig - zum Verlauf des Reaktionsendes. Der Hersteller kann damit beurteilen, ob eine zusätzliche Verzögerung des Reaktionsendes durch langsamer reagierende Anteile auftritt. Dieser Bereich der Hydratation wird als Endreaktion (‚final reaction‘ bzw. FR-Wert) bezeichnet. Der ermittelte FR-Wert ist ein standortspezifischer Kennwert für die Gleichmäßigkeit der Reaktionsrate über die Zeit. Dazu werden die aufgenommenen Temperatur/Zeit-Kurven durch Logarithmierung, Interpolation, Differenzierung und Glättung aufbereitet und durch Anpassung geeigneter Verteilungskurven ausgewertet.

Die Kurvenverläufe der logarithmierten Ableitung weisen für alle untersuchten Proben ein initiales Maximum auf, an das sich bei langsameren Hydratationsverläufen ein weiteres Maximum anschließt. Das erste Maximum ist auf eine schnelle Calciumhydroxidbildung an der Branntkalkoberfläche zurückzuführen, die einen weiteren Wasserzutritt durch diese diffusionshemmende Schicht behindert. Diese Beobachtung führte zu der Hypothese, dass die Hauptreaktion einer logarithmierten Gauss'schen Verteilungskurve entspricht.

Die im Rahmen dieses Forschungsvorhabens entwickelte erweiterte Auswertung liefert folgende zusätzliche Kennzahlen:

- Anzahl der Umsatzratenmaxima (d. h. mono-, bi- oder multimodale Verteilung)

- Zeitpunkt des Hauptumsatzratenmaximums

- Halbwertsbreite der approximierten logarithmischen Normalverteilungen

- Endreaktionsanteil (FR-Wert, Anteil „hartgebrannte Anteile“)

- Zeitpunkt des Reaktionsendes unter Vernachlässigung der Wäremeverluste

Die neu generierten Daten wurden durch vergleichende Untersuchungen an 47 Branntkalkproben mit den Produktparametern verknüpft. Die Messungen wurden an realen Weißfeinkalken durchgeführt. Hierdurch bedingte Unterschiede im Ofentyp, Brennstoffeinsatz und Verweilzeit haben dazu geführt, dass keine werks- bzw. lagerstättenunabhängige Vorhersage über den Endreaktionsanteil getroffen werden kann. Dies bestätigten auch entsprechende Untersuchungen an - im Rahmen dieser Arbeit - erbrannten Modellkalken. Es verhält sich vielmehr so, dass jeder Hersteller seinen individuellen Grenzwert für das Vorhandensein bzw. die Bewertung „hartgebrannter Anteile“ selbst festlegen muss.

Hinweis

Das IGF-Vorhaben AiF-Nr. 15651 N der Forschungsvereinigung Kalk und Mörtel e.V. (FG) wurde über die AiF im Rahmen des Programms zur Förderung der industriellen Gemeinschaftsforschung und –entwicklung (IGF) vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages gefördert und bei der FG sowie im Institut für Nichtmetallische Werkstoffe der TU Clausthal durchgeführt. Der vollständige Abschlussbericht der Forschungsarbeit steht als Forschungsbericht Nr. 2/2010 zum Download auf der Internetseite der Forschungsgemeinschaft Kalk und Mörtel e. V. zur Verfügung.

Literaturverzeichnis

[1] Deutsches_Institut_für_Normung: EN 459-1 - Baukalk – Teil 2: Prüfverfahren. Beuth Verlag, Berlin, 2001, 39

[2] Deutsches_Institut_für_Normung: DIN 1060 - Baukalk. Beuth Verlag, Berlin, 1971,

[3] Ramchandran, V. S., Sereda, P. J. & Feldman, R. F.: Mechanism of hydration of calcium lime. Nature 201 (1964), No. pp. 288-289

[4] Wuhrer, J.: Physikalisch-chemische Untersuchungen über den Zustand des Branntkalkes und über die Vorgänge und Einflüsse beim Brennen. ZKG Inter. 6 (1953), No. 10, pp. 354-368

[5] Hartmann, H. & Wegner, W.: Beitrag zum Löschverhalten von Weißkalk in Abhängigkeit von Brenntemperatur und chemischer Zusammensetzung. ZKG Inter. 7 (1954), No. 7, pp. 229-240

[6] Song, H. S. & Kim, C. H.: The effect of surface carbonation on the hydration of CaO. Cement and Concrete Researche 20 (1990), No. pp. 815-823

[7] Butenuth, G., Butenuth, E. & Frey, M.-L.: Methodische Grenzen und Möglichkeiten von Naßlöschkurven bei Branntkalken - Reaktionsgrößen als zeitliche Grenzwerte, Teil 1: Thermodynamische Größen. TIZ International 112 (1988), No. 1, pp. 50-56

[8] Butenuth, G., Butenuth, E. & Frey, M.-L.: Methodische Grenzen und Möglichkeiten von Naßlöschkurven bei Branntkalken - Bemerkungen zur formalkinetischen Auswertung von adiabatisch geführten, heterogenen Folge-Reaktionen, Teil 2. TIZ International 112 (1988), No. 9, pp. 586-595

[9] Wolter, A., Baum, C. & Luger, S. "Zur Kinetik der Hydratation von Branntkalk." Proc., 15. Int. Baustofftagung - IBAUSIL, F. A. Finger-Institut für Baustoffkunde, 577-589.

[10] Wolter, A., Luger, S. & Schaefer, G.: Zur Kinetik der Hydratation von Branntkalk. ZKG Inter. 57 (2004), No. 8, pp. 60-68

[11] Pfannenschmidt, U. (2008). "Entsäuerungs- und Sinterverhalten eines reinen Kalksteins." Diplomarbeit, TU Clausthal, Clausthal-Zellerfeld.

[12] Hogewoning, S. (2008). "Zur Relation von Kalksteineigenschaften und Branntkalkreaktivität." Dissertation, TU Clausthal, Clausthal-Zellerfeld.

Bildunterschriften

  • Bild 1: Auswertung der NLK nach DIN EN 459-2
  • Bild 2: K1 : [t,T], Rohdaten
  • Bild 3 K2 : [ln(t),T], logarithmische Abszisse in Minuten
  • Bild 4: K3, logarithmische Abszissenwerte, auf n Stützpunkten
  • Bild 5: K4, Differenzquotient und Glättung über m Stützpunkte
  • Bild 6: Variabeln der Gauss-Verteilungskurve
  • Bild 7: Einpassung der Gauss-Verteilungskurven
  • Bild 8 Bestimmung der FR-Fläche
  • Bild 9 Parameter der erweiterten Auswertung, Messungen beider Forschungsstellen
  • Bild 10: NLK-Messungen und Gauss-Anpassung beider Forschungsstellen – B027/10
  • Bild 11: Entwicklung der Reaktivität in Abhängigkeit vom Hartbranntanteil der Probe

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